Ich sitze in einem Café und genieße das Grummeln, Lachen und Schwatzen all der Menschen, die gemeinsam an den Tischen ihre Erlebnisse, Erinnerungen und Gedanken austauschen. Ich beobachte, wie sie sich anlächeln, sich gegenseitig zuhören und auch mal kurz schweigen, um den Kaffee oder Kuchen zu genießen. Ich hatte mir ein Buch zum Zeitvertreib in meine Tasche gesteckt, aber bisher brauchte ich darauf nicht zurückgreifen.
An der Eingangstür zum Café wird es plötzlich lautstark und ich entdecke ein unerwartetes Wiedersehen zweier Frauen. Daneben steht ein Kind und sieht den beiden freudestrahlend bei der Begrüßung zu. Es ist nicht zu überhören, dass das Kind in diesem Jahr in die Schule geht. Überrascht über die schnell verflossenen Jahre und dem verpassten Großwerden des Kindes spricht eine der beiden Frauen zu ihm: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens!“.
Mein Lächeln verschwand ebenso so schnell wie das des Kindes und ich konnte die plötzlich auftretenden Fragen in dem kleinen Kopf nur vermuten: ‚Der Ernst des Lebens? Was bedeutet das? Was passiert denn Ernstes in der Schule?‘.
Der Ernst des Lebens! Eine Floskel, die viele von uns selbst gehört und vielleicht als abgespeicherte Aussage und ohne zu hinterfragen an den einen oder anderen Schulanfänger weitergegeben haben. Eine Floskel, die dem Kind schon vor Eintritt in die Schule die Freude darauf nehmen oder gar Ängstlichkeit bei unsicheren Kindern schüren kann. Was ist denn so ernst in der Schule? Sollten die Kinder nicht fröhlich sein, endlich in die Schule gehen zu dürfen, um das Schreiben, Lesen und Rechnen zu lernen? Sollten sie sich nicht – unabhängig von der Schultüte 😉 – auf den neuen Abschnitt in ihrem Leben freuen? Ist uns bewusst, was es beim Schulanfänger auslösen kann, wenn wir die Schule mit dem Ernst des Lebens verbinden? Sicherlich nicht. Denn wir (und da nehme ich mich nicht raus) hinterfragen viel zu selten, warum wir solche Floskeln, Sätze oder Worte gegenüber Kindern anwenden und weitergeben. Mein Auslöser, den „Ernst des Lebens“ in der Schule zu hinterfragen war diese Beobachtung in dem Café.
Kinder sollten das Lernen nicht als etwas Ernstes, sondern als etwas Wunderbares erleben. Sie sollten auch in der Schule so unbekümmert und „unbewusst“ lernen können, wie sie dies von Geburt an tun: sie forschen, probieren aus, sammeln, verändern, stellen Fragen und entdecken dabei Neues und ihre eigenen Grenzen. Gerald Hüther beschäftigt sich schon sehr lange mit diesem Thema und hat die Initiative LernLust.JETZT! ins Leben gerufen – mit dem Ziel, die Lernfreude der Kinder an Schulen zu verbessern. Dafür werden Mitstreiter und Botschafter gesucht, die Ortsbündnisse gründen, „um die für die jeweiligen Schulen vor Ort verantwortlichen Personen dabei zu unterstützen, die Lernfreude ihrer Schüler wiederzuerwecken und zu beflügeln“.
Diese Kampagne begeistert mich, denn wir alle wissen, dass Lernen ohne Lust und Laune vergeudete Zeit ist. An uns selbst spüren wir, auf welche Aufgaben wir Lust haben und welche wir Tag für Tag weiterschieben. Wir selbst wissen, welche Themen uns interessieren und welche nicht. Ich zum Beispiel setze mich wahnsinnig gern mit den Themen „Kinder & Medien“, „Ernährung & Gesundheit“ auseinander. Geografie und Geschichte überlasse ich gern anderen 😉 So ergeht es jedem von uns. So ergeht es auch den Kindern. Es gibt Dinge, die sie interessieren und Dinge, die sie nicht interessieren. An dieser Stelle sind die Lehrer und Lehrerinnen gefordert, mit Feinfühligkeit, Kreativität und Offenheit das Leben und Lernen in der Schule so zu gestalten, dass jedes Kind sich individuell nach seinen Interessen und Möglichkeiten entwickeln und lernen kann. Mir ist bewusst, dass sich dies leichter schreibt als es umzusetzen ist. Doch jeder kleine Schritt Veränderung des Schulalltags in Richtung Lernfreude der Kinder kann Auslöser für eine Welle der Umgestaltung und Neuorientierung im Schulalltag sein und somit auch die eventuell schlummernde Lernfreude der Lehrerinnen und Lehrer wecken. Es gibt bereits sehr viel kreatives und engagiertes Fachpersonal an Schulen, die festgefahrene Strukturen, Abläufe und Inhalte aufbrechen. Klassenräume werden in Entdecker- und Lernoasen umgewandelt. Die Tische, ehemals in Reihen mit Blickrichtung zur Tafel und somit zum Lehrpersonal vorn, stehen nun in Gruppen und Kreisen quer im Raum. Dazu bieten Teppiche, Sitzlounges etc. ein Lernen in bewegten Körperhaltungen. Jedes Kind kann in seinem eigenen Lernrhythmus, seinem eigenen Lerntempo und seinen eigenen Lernstrategien Wissen erforschen, verstehen und abspeichern. Lernerschöpfungen werden mit Yogaübungen oder individuellen Pausen überbrückt, die die Kinder mit vorhandenem Material und einem Zeitlimit selbstständig durchführen können. Danach gelingt es den Kindern, die Aufgaben wieder gestärkt und konzentriert anzugehen. Weiterhin werden alle Eckpunkte der Schulstunde visuell begleitet und unterstützt. Die Kinder finden somit selbstständig ihre individuellen Stärken, ihre Fähigkeiten und Lernmöglichkeiten heraus. Frontalunterricht ade 🙂 Es gibt schon viele dieser Lehrer und Lehrerinnen, die das System der Schule neu gestalten, aber es gibt immer noch zu wenig. So wie die Floskel des „Ernst des Lebens“ werden an vielen Schulen überholte Strukturen beibehalten, weil es immer so war. Glücklicherweise gibt es viele Lehrer und Lehrerinnen, die ihre Ideen, ihr Material und ihre Erfahrungen meist kostenfrei oder für einen geringen Obolus auf verschiedenen SocialMedia-Kanälen teilen. Oft reicht auch nur eine kleine Inspiration, ein kleiner Gedankenanstoß oder auch das Gefühl, Gleichgesinnte für den Austausch zu haben, um neue Schritte und Veränderungen zu gehen. Veränderungen, um zusammen mit den Kindern die Freude am Lernen zu behalten bzw. neu zu entdecken.
Kinder sind offen für Neues. Kinder sind lernhungrig. Sie wollen entdecken, selbst ausprobieren und nicht nur zuhören und zuschauen. Nach dem Leitspruch von Konfuzius „Sage es mir, und ich vergesse es. Zeige es mir, und ich werde mich erinnern. Lass es mich tun, und ich behalte es!“ sollten die Kinder auch nach ihrer Kleinkindphase weiterlernen. Wir alle lernen am meisten, wenn wir es selbst ausprobieren und tun/anfassen können. Das müssen wir auch den Kindern zugestehen, damit sie ihr anfängliches Interesse an allem Neuen in der Welt nicht verlieren. Alles ist spannend und will erforscht werden. Oft sind es die Dinge, die die Erwachsenen benutzen. Töpfe, Klammern, verschlossene Schränke sind Ziele der Entdeckungen. Berühren, schmecken, ansehen, hören, riechen – mit allen Sinnen werden neue unbekannte Dinge erforscht. In der Entwicklung der Kinder kristallisieren sich dann spezifische Interessen heraus, die unbedingt zugelassen werden sollten. Wenn Kinder bereits in ihrer Kindheit herausfinden, was sie mögen, was sie interessiert, worin sie gut sind und sich darin weiterentwickeln können, dann erhalten sie bereits frühzeitig die Chance, den Weg in ihrem Leben zu finden, der sie erfüllt und glücklich macht. Wir selbst haben es in der Hand, ob unsere Kinder sich zu großen Forschern entwickeln oder von ihrer Umgebung ausgebremst werden. Wir haben es selbst in der Hand, ob wir mit alteingesessenen Floskeln den Kindern schon im Voraus die Freude am Leben in der Schule nehmen.
An dieser Stelle möchte ich von einer kleinen Beobachtung erzählen, welche ich im vergangenen Herbst gemacht habe:
Ende September. Die Herbstsonne meint es gut und möchte bei 22 Grad die Menschen noch einmal an die Sommersonne erinnern. Viele zieht es an diesem warmen Sonntagnachmittag an den See. Auch ich nutze noch einmal die warmen Sonnenstrahlen, setze mich an den Strand und kann einer meiner Lieblingsbeschäftigungen nachkommen: Beobachten 😉 Ich freue mich, dass so viele Familien mit ihren Kindern am See sind und die Kinder einfach nur spielen lassen. Ich sehe Kinder rennen, lachen, kreischen, plantschen, Löcher graben, Burgen bauen, Sandkuchen backen, das Wasser an ihren nackten Füßen spüren, den Enten im Wasser zusehen …
Ein Vater sitzt im Sand und beobachtet seine Söhne, welche barfuß im flachen Wasser über den steinigen Boden gehen. Kleine Wellen brechen an den Beinen und spritzen Wasser auf die hochgekrempelten Hosenbeine. Ich schätze die Jungs so 7/8 Jahre alt. Ich vermute, dass sie es gewohnt sind, sich auszuprobieren, denn sie sind darin kaum zu bremsen. „Das ist voll glitschig!“, rufen sie ihrem Vater zu. Dieser beobachtet und lächelt zustimmend zurück. Er nimmt diese Momente bewusst auf und lässt seine Jungs neue Erfahrungen sammeln. „Meine Füße werden richtig schnell trocken im Sand.“, stellt einer der beiden Jungen fest und testet es gleich noch einmal aus, nachdem er kurz im Wasser war.
Dann kommt eine Familie mit einem kleinen Jungen. Ich vermute, dass die Erwachsenen die Eltern und Großeltern sind. An der Hand der Oma geht der ca. 2 ½- bis 3jährige Junge. Die Mutter schiebt den leeren Kinderwagen. Der Opa führt einen Hund an der Leine und geht mit ihm über den Sand zum See hinunter. Der Junge möchte hinterher, doch die Hand der Oma gibt ihn nicht frei. Sie erklärt ihm, dass sie auf der Wiese stehen bleiben, weil sie sonst Sand in die Schuhe bekommen. Der Junge bleibt stehen; versucht es dennoch ein zweites Mal, dem Opa hinterher zu gehen. „Wir bleiben hier stehen und gucken zum Wasser!“, spricht die Oma zu ihm. Die Mutter des Kindes ist unbeteiligt mit ihrem Handy beschäftigt – in Dauerschleife. Als der Opa wieder zurück zur Wiese kommt, setzt die Oma den Jungen in den Wagen. Er möchte nicht in den Wagen und weint und jammert. Ich sehe ihm seine Unzufriedenheit und Enttäuschung an. Schließlich wird ihm der Schnuller in den Mund gesteckt. Die Reaktion des Jungen ist, sich im Wagen zurückzulehnen und keinerlei Notiz von seiner Umgebung mehr zu nehmen. Er zieht sich in dem Wagen zurück. Seine Beteiligten um ihn herum nehmen den Jungen gar nicht mehr wahr. Der stete gesenkte Blick der Mutter ins Handy, das über den Jungen geklappte Wagendach und die Gespräche untereinander lassen die Anwesenheit eines Kindes in der Familie vergessen.
Gegensätzlicher können diese beiden Beobachtungen nicht sein. Welche Kinder aus diesen beiden Beispielen ihre Entdeckerlust ausleben konnten und demzufolge auch behalten haben, muss ich nicht erläutern. Der Satz aus LernLust.JETZT! „… wer seine Freude am Lernen verliert, verliert damit auch seine Freude am Leben.“ spiegelt sich im Verhalten und dem Gesicht des kleinen Jungen wider. Ich wünsche ihm, dass dieser Auszug aus seinem Leben, den ich wahrgenommen habe, nicht sein Alltag ist. Ich wünsche ihm, dass ihn in der KiTa pädagogische Fachkräfte entdeckerfreundlich begleiten und auch die Familie viele andere Situation in Gemeinsamkeit erlebt.
Ich möchte die Familie des Jungen bezüglich meiner Beobachtungen nicht verurteilen. Jeder handelt manchmal unüberlegt oder spricht Sätze aus, ohne darüber nachzudenken, was sie bewirken können. Auf der Wiese stehen zu bleiben, damit kein Sand in die Schuhe kommt, war die Aussage der Oma. Aber was wird wohl im Kopf des Jungen gedanklich passiert sein, als der Opa durch den Sand zum Wasser ging? Bekommt der Opa keinen Sand in den Schuh? Vielleicht war es der Oma auch zu aufwendig, eventuellen Sand aus den Schuhen des Jungen auszuschütten, sollte sie ihn mit dem Opa mitgehen lassen. Doch diese vermeintlich leichter für den Erwachsenen erscheinenden Entscheidungen, erschweren kommende Situationen immer mehr, weil man dem Kind die Möglichkeit genommen hat, sich selbst auszuprobieren, Erfahrungen zu machen und selbstständig zu werden. Solange solche Situationen als Ausnahmen auftreten, werden auch die Kinder diese Momente als Ausnahmen einschätzen lernen. Erfahren die Kinder aber regelmäßig, dass die Erwachsenen ihnen Dinge abnehmen und sie ausgebremst werden, entwickelt sich die Eigeninitiative der Kinder immer weiter zurück, die Selbstständigkeit, der Forscherdrang und die Lernfreude bleiben auf der Strecke und die Erwachsenen manövrieren sich selbst in eine zunehmend stressvolle und ausweglose Situation.
So wie die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen sollten auch die pädagogischen Fachkräfte in der Kindereinrichtung tagtäglich die Entdeckerfreude der Kinder erhalten und fördern und Möglichkeiten zum selbstbestimmten Lernen und Forschen schaffen. Kinder lernen dabei von sich aus gern und aus eigener Motivation heraus. Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte beobachten die Kinder, helfen und begleiten sie und fördern individuelle Stärken und Schwächen. .https://www.scoyo.de/magazin/lernen/lerntipps-lernmotivation/mehr-motivation-durch-selbstbestimmtes-lernen/ [letzter Aufruf am 15.08.2023]
Beim selbstbestimmten Lernen entscheiden die Kinder also eigenständig, womit sie sich wann und mit wem befassen. Angeregt dazu werden die Kinder anhand einer altersgerechten Raumgestaltung und didaktischem Material, das zum Forschen anregt. Gelernt wird also fast von selbst und nebenbei 😉 Kein „Ernst des Lebens“ sondern ein Kinderspiel 🙂 Damit möchte ich noch einmal alle Pädagogen und Familien aufrufen, die Lernfreude der Kinder zuzulassen, zu erhalten und wieder aufzuwecken – denn in der heutigen Zeit lernen wir alle nicht nur während der Schulzeit, sondern ein Leben lang und das hoffentlich mit ganz viel Freude. 🙂
Heike von
Passend zum Thema möchte ich die Elternbriefe vom Deutschen Familienverband aus den Jahren 2016_Trau mir ruhig etwas zu!, 2018_Wurzeln und Flügel und 2019_Spielen – der Beruf des Kindes empfehlen. Unter dem Menüpunkt „Deutscher Familienverband“ auf dieser Website ist der Weg zu weiteren interessanten Elternbriefen des „Deutscher Familienverband“ verlinkt.
Empfehlung zum Weiterlesen für pädagogische Fachkräfte:
https://www.kita-fuchs.de/ratgeber-paedagogik/beitrag/ich-will-das-selbst-machen-den-umgang-mit-kindlicher-selbsttaetigkeit-gestalten/ [letzter Aufruf: 15.08.2023]
Kleiner Gedankenanstoß:
Im Buch „Das Café am Rande der Welt“ von John Strelecky tauche ich als Leser in eine Welt, in welcher ich als Erwachsener herausfinden möchte, was mich erfüllt und mir gut tut. Es führt den Leser zum Bewusstsein, dass ein Job erschöpft und krank macht, wenn er mehr zum Geldverdienen und weniger aus Interesse und Liebe gemacht wird. Warum brauchen so viele Menschen dieses Buch, um über ihr Leben nachzudenken und das herauszufinden, was sie erfüllt und glücklich macht? Vielleicht, weil sie in der Kindheit nie die Chance dazu hatten?
“Potentiale zu entfalten heißt nichts weniger, als gemeinsam über sich hinaus zu wachsen.”